Christentum – kultur- und zeitunabhängig
António Justo
Christentum kann nicht mit einer Kirche identifiziert werden, weniger noch kann es mit Christenheit – Volks-christentum – gleichgesetzt werden.
Christentum beruht auf der konkreten Person Jesu und dem Wirken Gottes in der Geschichte und in jedem Individuum.
Es ist immer subjektiv, das Wesen des Christentums zu beschreiben, weil es die Subjektivität, das Noch-nicht-Vollzogene beinhaltet und nur aus dem Verständnis geschichtlicher und subjektiver Perspektiven möglich ist.
Das Christentum versteht sich als Welt- und Menschheitsreligion, es ist universal, es betrachtet sich als noch nicht zur vollen Entfaltung gekommen, als Prozeß, da sich Gott in jedem Menschen und in jeder Kultur weiter offenbart. Es ist nicht an eine Kultur gebunden und versteht sich nicht als Mittler oder Ausdruck einer Kultur. Sein Ausdruck kann von Kultur zu Kultur, von Zeit zu Zeit verschieden sein. Es realisiert sich in der Geschichte und versteht sich als Heilsgeschichte, die bis zum Ursprung der Menschheit zurückreicht und bis in die Zukunft hinein offenbart wird. Im Kult (Vergenwärtigung von Ver-gangenheit und Zukunft in einem mythologischen Geschehnis) und in der religiösen Praxis bedient es sich der Symbole, die bis zum Urmenschen zurückgehen. Das Christentum be-greift sich als eschatologische Religion, d. h. es nimmt die Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen ernst. Seine Lehre ist dem Wirken des Geistes in jedem Menschen offen. Es ist im Werden, und in ihm kann ein Atheist, ein Marxist auch ein Stück Offenbarung sein, am Prophetentum teilhaben. Christentum erfährt sich als „pilgernde Gemeinde“, in der sich Gott offenbart hat und weiterhin offenbart. Als integrale Religion wen-det es sich an Person und Gemeinschaft und anerkennt die gegenseitige Abhän-gigkeit beider. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich.“ Die Religionsgemein-schaften pilgern zur unmittelbaren Offenbarung Gottes. Das Christentum als geschichtliche Offenbarungsreligion versteht sich als Verwirklichung und Sinngebung der Geschichte. Es sieht in jedem Nicht-Bekenner einen anonymen Christen und setzt in jedem Menschen eine natürliche christliche Seele voraus.
Das Hauptereignis und die Fakten des Lebens Jesu sind als Prozeß, als Symbole bzw. Denkfiguren zu begreifen und nicht als isolierte Daten. Sie bedürfen der ständigen Deutung und Neu-Formulierung in der Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis. Das Festbeißen und Festhalten der Amtskirche an Dogmen im wortwörtlichen Sinn wie Jungfräulichkeit Mariens, Unfehlbarkeit des Papstes usw. zeigt schon das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit und die Unfähigkeit der Amtskirche, sich kontinuierlich dem Geist Gottes zu stellen.
Die Aufhebung des Zwiespalts zwischen Mensch und Gott
Die Menschen und Religions-gemeinschaften sind nicht nur Objek-te, sondern auch Subjekte der Anwe-senheit Gottes in der Geschichte. Chri-stentum ist die dialogische Geschichte zwischen Gott und Menschen und begreift sich als Gemeinschaft, die sich von der verheißenen Zukunft verstehen will und somit von dieser Zukunft her entworfen sein muß. Die Vergangenheit kann nur aus dem Blick der Zukunft gesehen und gedeutet werden und nicht umgekehrt. Jesus Christus wird als der qualitativ einmalige Höhepunkt der Selbstmittei-lung Gottes und des Menschen erfah-ren. Das Jenseits und Dieseits werden als Einheit betrachtet und zum ge-schichtlichen Ereignis erklärt. Jesus Christus wird als Prototyp gesehen. Er ist der zukünftige Mensch und nimmt unser künftiges Menschsein vorweg. Für mich sind die Aussagen über die Person Christi, sein Leben, seine Gleichnisse und Denkfiguren der tiefste Wesenskern des Christentums. Dadurch, daß ein Mensch zu Gott und Gott zum Menschen wird, wird die Gegensätzlichkeit zwischen Gott und Mensch, zwischen Materie und Geist verneint und somit mehr zu einer Art von Monismus, in dem der Mensch und die Menschheit aufge-rufen wird, sich Gottes und der Menschlichkeit in sich selbst, in der Natur bewußt zu werden und zu verwirklichen, d. h. nicht außerhalb zu suchen. Relevant ist nicht die Frage der göttlichen oder menschlichen Natur Jesu, sondern die heilsgeschichtliche Bedeutung seiner Person.
Der Dualismus Mann – Frau wird aufgelöst
Gleichermaßen wie Jesus die Ge-gensätzlichkeit von Gott und Mensch aufhebt, löst er auch den Dualismus Mann – Frau auf. Obwohl er in einer patriarchalischen Gesellschaft lebte, wehrte er sich gegen ihre frauen-feindliche Struktur und vereinigte in sich Weiblichkeit und Männlichkeit, so daß das eine das andere nicht verdrängt. Jesus bringt eine andere Weltordnung, in der der Dualismus keinen Platz hat. Für ihn ist Nächstenliebe gleich Gottesliebe, er predigt und lebt die Feindesliebe, Reinheit, Demut, Umkehrbereitschaft und bricht mit dem erstarrten Gesetz. Er verteidigt das persönliche Verhältnis zu Gott. Er lebt Gott für die anderen, für die Randgruppen, Unterdrückten, die Frauen. Für ihn werden alle zu Partnern/innen Gottes. Es gilt das Primat der Liebe und der Freiheit unabhängig von Dogmen und Religi-onen. Jesus hinterfragt die Gesellschaft, die ihre Opfer nicht anerkennt und hinterfragt jene, die im Namen Gottes oder des Staates bestimmen wollen, was die Menschen denken, fühlen, machen und glauben sollen. Er stellt die herrschende, patriar-chalische Gesellschaft in Frage, ent-mythologisiert die Macht, die Institu-tionen und Denkmodelle. Er ist der radikale Befreier, der die Menschen sogar von Gott zu befreien versucht, d. h. er befreit sie vom Zwang der Orthodoxie, damit sie sich begegnen können und Gott – sich selber – erfahren. Gott ist für Jesus weder ein Supermensch noch ein Wunschbild. Er „tötete“ den Gott des Dualismus und starb als Mensch, so daß Gott – Mensch – Natur, Mann – Frau sich wiederfinden. Jesus Christus ist die Sythese von Gott und Mensch und ermöglicht sie. Jesus ist die totale Alternative. Gottes Reich hat sich in ihm verwirklicht und dieses Reich gehört den Armen, Kindern, Prosti-tuierten, Lesben, Homos, „Auslän-dern“ und allen möglichen Rand-gruppen (Mk. 2, 15; 10, 15 – 16; Lk. 12, 56). Er selbst befindet sich außerhalb der Mauern Jerusalems (Gesellschaft), dort wurde er getötet durch die, welche die Wahrheit und das Recht bewahren und besitzen wollen innerhalb der Mauern.
Jesus will die Sozialisierung von Eigentum, Macht und Wissen. In sei-ner Bergpredigt wird er unübertroffen bleiben in seinem praktischen, konse-quenten Anspruch.Viele Menschen, die die Bibel oder andere Bücher der Weltreligionen lesen, haben Schwie-rigkeiten, wenn es um konkrete Fragen geht wie die Stellung der Frau, der Umgang mit der Natur… Sie sollen aber nicht vergessen, daß die Bücher in Denkfiguren sprechen und von „Männern Gottes“ geschrieben wurden, die in männerorientierten Gesellschaften lebten und wo die Natur oft bedrohlich erschien. So geschah es auch mit dem Neuen Testament, wo die Männer patriarchalisch dachten im Gegensatz zu Jesus, der ein anderes Verhalten und eine neue Weltordnung brachte. Das Verhängnisvolle ist, daß Paulus mit seiner griechischen Menta-lität und die Kirchenväter mit ihrem patriarchalischen Verständnis Jesus patriarchalisch deuteten, was dazu führte, daß Jesus mißverstanden wurde, wie wir heute in der Theologie erkennen können. Die Evangelien als gläubige Deutung der Geschichte Jesu stellen zwar einen Zusammenhang zu Jesu Leben dar, aber sie können nicht als reine Geschichte Jesu verstanden werden, sondern mehr als die Geschichte und Wahrnehmung der entstehenden christlichen Gemeinde in Bezug auf die Person Jesus.
Religionen als „Bilder Gottes“ und der Menschen
Gott ist da, wo der offizielle Gott der Religionen, der Kirchen und Nationen nicht sein kann und nicht sein soll (um einen Satz des Theologen Klaus Schäfer zu paraphrasieren).
Gott kann nicht Eigentum oder Gefangener einer Kultur sein. Das einzige Bild Gottes, das die Bibel erlaubt, ist der Mensch. Die Religio-nen als Bilder Gottes und der Menschen sind immer menschliche Sprache, die vor allem über den Menschen, der sie bekennt, aussagt. Die Männer, die Religionen weiter deuten und beherrschen, haben nicht das Recht, Gott zu ihrer Projektion und zu einem Macho zu machen, von dem die andere Komponente des Menschseins – die Weiblichkeit – ausgeschlossen wird. Der Mensch und nicht der Mann ist das Ebenbild Gottes.
Der Anspruch vieler Religionen auf den Besitz der Wahrheit ist eine Quelle der Arroganz, des Fanatismus und Mißverständnisses Gottes und des Menschen, die zum Krieg führt. Es gibt viele Wege zum Heil je nach kulturellem Hintergrund und psych-ischer Struktur. Wer seine Religion als die einziggültig behauptet, miß-braucht Gott und verfällt in einen Ismus gleich welcher Art.
Für mich beinhaltet Jesus Christus Vergangenheit und Zukunft zugleich, Materie und Geist in einem, Mann und Frau, Tod und Auferstehung, Paradies und Hölle als Fazetten der gleichen Wirklichkeit.
Jesus wird oft fälschlicherweise mit dem Gewand identifiziert, das man um ihn gewickelt hat; er wird verworfen, ohne daß man ihn eigentlich kennt. Folglich wird die abendländische Kultur einseitig negativ gesehen und abgelehnt. Man fixiert sich auf den zerstörerischen Aspekt der eigenen Kultur, weil man nur das, was falsch gemacht wurde, als Christentum kennt (Kreuzzüge, Hexenverbrennung, starre Lehre usw.).
Als Fazit würde ich sagen: Christentum ist mehr als ein Bekenntnis, es ist eine ganzheitliche Erfahrung (Leben). Es gibt nicht einen schon vorgefertigten Weg, der Weg wird im Gehen gemacht. Jesus Christus zeigte mit seinem Leben, daß es möglich ist, ein erwachsener und freier Mensch zu sein. Dafür müssen aber alle religiösen, nationalen und sonstigen Mauern abgebaut werden. Jesus war die Chance Gottes und der Menschen in der Welt. Diese Chance sind wir Menschen heute.
António da Cunha Duarte Justo
António Justo, Jahrgang 1947, studierte Philosophie und Erziehungswissendchaft in Portugal und Theologie in Deutschland (Dipl.-Theol.). Danach arbeitete er als Salesianerpater in einer Gemeinde bei Lissabon und im Schuldienst, später in Paris als Pfarrer. Erziehungswissendchaft in Portugal. Aufgrund seiner Heirat ist er seit 1980 Priester ohne Amt.
In: Zeitschrift des Ausländerbeirates der Stadt KasselGemeinsam“, Heft 11, April 1992, 5. Jahr