CHRISTENTUM : EINE BEFREIUNG

27. Mai 2010

Christentum – kultur- und zeitunabhängig
António Justo
Christentum kann nicht mit einer Kirche identifiziert werden, weniger noch kann es mit Christenheit – Volks-christentum – gleichgesetzt werden.

Christentum beruht auf der konkreten Person Jesu und dem Wirken Gottes in der Geschichte und in jedem Individuum.

Es ist immer subjektiv, das Wesen des Christentums zu beschreiben, weil es die Subjektivität, das Noch-nicht-Vollzogene beinhaltet und nur aus dem Verständnis geschichtlicher und subjektiver Perspektiven möglich ist.

Das Christentum versteht sich als Welt- und Menschheitsreligion, es ist universal, es betrachtet sich als noch nicht zur vollen Entfaltung gekommen, als Prozeß, da sich Gott in jedem Menschen und in jeder Kultur weiter offenbart. Es ist nicht an eine Kultur gebunden und versteht sich nicht als Mittler oder Ausdruck einer Kultur. Sein Ausdruck kann von Kultur zu Kultur, von Zeit zu Zeit verschieden sein. Es realisiert sich in der Geschichte und versteht sich als Heilsgeschichte, die bis zum Ursprung der Menschheit zurückreicht und bis in die Zukunft hinein offenbart wird. Im Kult (Vergenwärtigung von Ver-gangenheit und Zukunft in einem mythologischen Geschehnis) und in der religiösen Praxis bedient es sich der Symbole, die bis zum Urmenschen zurückgehen. Das Christentum be-greift sich als eschatologische Religion, d. h. es nimmt die Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen ernst. Seine Lehre ist dem Wirken des Geistes in jedem Menschen offen. Es ist im Werden, und in ihm kann ein Atheist, ein Marxist auch ein Stück Offenbarung sein, am Prophetentum teilhaben. Christentum erfährt sich als „pilgernde Gemeinde“, in der sich Gott offenbart hat und weiterhin offenbart. Als integrale Religion wen-det es sich an Person und Gemeinschaft und anerkennt die gegenseitige Abhän-gigkeit beider. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich.“ Die Religionsgemein-schaften pilgern zur unmittelbaren Offenbarung Gottes. Das Christentum als geschichtliche Offenbarungsreligion versteht sich als Verwirklichung und Sinngebung der Geschichte. Es sieht in jedem Nicht-Bekenner einen anonymen Christen und setzt in jedem Menschen eine natürliche christliche Seele voraus.

Das Hauptereignis und die Fakten des Lebens Jesu sind als Prozeß, als Symbole bzw. Denkfiguren zu begreifen und nicht als isolierte Daten. Sie bedürfen der ständigen Deutung und Neu-Formulierung in der Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis. Das Festbeißen und Festhalten der Amtskirche an Dogmen im wortwörtlichen Sinn wie Jungfräulichkeit Mariens, Unfehlbarkeit des Papstes usw. zeigt schon das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit und die Unfähigkeit der Amtskirche, sich kontinuierlich dem Geist Gottes zu stellen.

Die Aufhebung des Zwiespalts zwischen Mensch und Gott

Die Menschen und Religions-gemeinschaften sind nicht nur Objek-te, sondern auch Subjekte der Anwe-senheit Gottes in der Geschichte. Chri-stentum ist die dialogische Geschichte zwischen Gott und Menschen und begreift sich als Gemeinschaft, die sich von der verheißenen Zukunft verstehen will und somit von dieser Zukunft her entworfen sein muß. Die Vergangenheit kann nur aus dem Blick der Zukunft gesehen und gedeutet werden und nicht umgekehrt. Jesus Christus wird als der qualitativ einmalige Höhepunkt der Selbstmittei-lung Gottes und des Menschen erfah-ren. Das Jenseits und Dieseits werden als Einheit betrachtet und zum ge-schichtlichen Ereignis erklärt. Jesus Christus wird als Prototyp gesehen. Er ist der zukünftige Mensch und nimmt unser künftiges Menschsein vorweg. Für mich sind die Aussagen über die Person Christi, sein Leben, seine Gleichnisse und Denkfiguren der tiefste Wesenskern des Christentums. Dadurch, daß ein Mensch zu Gott und Gott zum Menschen wird, wird die Gegensätzlichkeit zwischen Gott und Mensch, zwischen Materie und Geist verneint und somit mehr zu einer Art von Monismus, in dem der Mensch und die Menschheit aufge-rufen wird, sich Gottes und der Menschlichkeit in sich selbst, in der Natur bewußt zu werden und zu verwirklichen, d. h. nicht außerhalb zu suchen. Relevant ist nicht die Frage der göttlichen oder menschlichen Natur Jesu, sondern die heilsgeschichtliche Bedeutung seiner Person.

Der Dualismus Mann – Frau wird aufgelöst

Gleichermaßen wie Jesus die Ge-gensätzlichkeit von Gott und Mensch aufhebt, löst er auch den Dualismus Mann – Frau auf. Obwohl er in einer patriarchalischen Gesellschaft lebte, wehrte er sich gegen ihre frauen-feindliche Struktur und vereinigte in sich Weiblichkeit und Männlichkeit, so daß das eine das andere nicht verdrängt. Jesus bringt eine andere Weltordnung, in der der Dualismus keinen Platz hat. Für ihn ist Nächstenliebe gleich Gottesliebe, er predigt und lebt die Feindesliebe, Reinheit, Demut, Umkehrbereitschaft und bricht mit dem erstarrten Gesetz. Er verteidigt das persönliche Verhältnis zu Gott. Er lebt Gott für die anderen, für die Randgruppen, Unterdrückten, die Frauen. Für ihn werden alle zu Partnern/innen Gottes. Es gilt das Primat der Liebe und der Freiheit unabhängig von Dogmen und Religi-onen. Jesus hinterfragt die Gesellschaft, die ihre Opfer nicht anerkennt und hinterfragt jene, die im Namen Gottes oder des Staates bestimmen wollen, was die Menschen denken, fühlen, machen und glauben sollen. Er stellt die herrschende, patriar-chalische Gesellschaft in Frage, ent-mythologisiert die Macht, die Institu-tionen und Denkmodelle. Er ist der radikale Befreier, der die Menschen sogar von Gott zu befreien versucht, d. h. er befreit sie vom Zwang der Orthodoxie, damit sie sich begegnen können und Gott – sich selber – erfahren. Gott ist für Jesus weder ein Supermensch noch ein Wunschbild. Er „tötete“ den Gott des Dualismus und starb als Mensch, so daß Gott – Mensch – Natur, Mann – Frau sich wiederfinden. Jesus Christus ist die Sythese von Gott und Mensch und ermöglicht sie. Jesus ist die totale Alternative. Gottes Reich hat sich in ihm verwirklicht und dieses Reich gehört den Armen, Kindern, Prosti-tuierten, Lesben, Homos, „Auslän-dern“ und allen möglichen Rand-gruppen (Mk. 2, 15; 10, 15 – 16; Lk. 12, 56). Er selbst befindet sich außerhalb der Mauern Jerusalems (Gesellschaft), dort wurde er getötet durch die, welche die Wahrheit und das Recht bewahren und besitzen wollen innerhalb der Mauern.

Jesus will die Sozialisierung von Eigentum, Macht und Wissen. In sei-ner Bergpredigt wird er unübertroffen bleiben in seinem praktischen, konse-quenten Anspruch.Viele Menschen, die die Bibel oder andere Bücher der Weltreligionen lesen, haben Schwie-rigkeiten, wenn es um konkrete Fragen geht wie die Stellung der Frau, der Umgang mit der Natur… Sie sollen aber nicht vergessen, daß die Bücher in Denkfiguren sprechen und von „Männern Gottes“ geschrieben wurden, die in männerorientierten Gesellschaften lebten und wo die Natur oft bedrohlich erschien. So geschah es auch mit dem Neuen Testament, wo die Männer patriarchalisch dachten im Gegensatz zu Jesus, der ein anderes Verhalten und eine neue Weltordnung brachte. Das Verhängnisvolle ist, daß Paulus mit seiner griechischen Menta-lität und die Kirchenväter mit ihrem patriarchalischen Verständnis Jesus patriarchalisch deuteten, was dazu führte, daß Jesus mißverstanden wurde, wie wir heute in der Theologie erkennen können. Die Evangelien als gläubige Deutung der Geschichte Jesu stellen zwar einen Zusammenhang zu Jesu Leben dar, aber sie können nicht als reine Geschichte Jesu verstanden werden, sondern mehr als die Geschichte und Wahrnehmung der entstehenden christlichen Gemeinde in Bezug auf die Person Jesus.

Religionen als „Bilder Gottes“ und der Menschen

Gott ist da, wo der offizielle Gott der Religionen, der Kirchen und Nationen nicht sein kann und nicht sein soll (um einen Satz des Theologen Klaus Schäfer zu paraphrasieren).

Gott kann nicht Eigentum oder Gefangener einer Kultur sein. Das einzige Bild Gottes, das die Bibel erlaubt, ist der Mensch. Die Religio-nen als Bilder Gottes und der Menschen sind immer menschliche Sprache, die vor allem über den Menschen, der sie bekennt, aussagt. Die Männer, die Religionen weiter deuten und beherrschen, haben nicht das Recht, Gott zu ihrer Projektion und zu einem Macho zu machen, von dem die andere Komponente des Menschseins – die Weiblichkeit – ausgeschlossen wird. Der Mensch und nicht der Mann ist das Ebenbild Gottes.

Der Anspruch vieler Religionen auf den Besitz der Wahrheit ist eine Quelle der Arroganz, des Fanatismus und Mißverständnisses Gottes und des Menschen, die zum Krieg führt. Es gibt viele Wege zum Heil je nach kulturellem Hintergrund und psych-ischer Struktur. Wer seine Religion als die einziggültig behauptet, miß-braucht Gott und verfällt in einen Ismus gleich welcher Art.

Für mich beinhaltet Jesus Christus Vergangenheit und Zukunft zugleich, Materie und Geist in einem, Mann und Frau, Tod und Auferstehung, Paradies und Hölle als Fazetten der gleichen Wirklichkeit.

Jesus wird oft fälschlicherweise mit dem Gewand identifiziert, das man um ihn gewickelt hat; er wird verworfen, ohne daß man ihn eigentlich kennt. Folglich wird die abendländische Kultur einseitig negativ gesehen und abgelehnt. Man fixiert sich auf den zerstörerischen Aspekt der eigenen Kultur, weil man nur das, was falsch gemacht wurde, als Christentum kennt (Kreuzzüge, Hexenverbrennung, starre Lehre usw.).

Als Fazit würde ich sagen: Christentum ist mehr als ein Bekenntnis, es ist eine ganzheitliche Erfahrung (Leben). Es gibt nicht einen schon vorgefertigten Weg, der Weg wird im Gehen gemacht. Jesus Christus zeigte mit seinem Leben, daß es möglich ist, ein erwachsener und freier Mensch zu sein. Dafür müssen aber alle religiösen, nationalen und sonstigen Mauern abgebaut werden. Jesus war die Chance Gottes und der Menschen in der Welt. Diese Chance sind wir Menschen heute.
António da Cunha Duarte Justo

António Justo, Jahrgang 1947, studierte Philosophie und Erziehungswissendchaft in Portugal und Theologie in Deutschland (Dipl.-Theol.). Danach arbeitete er als Salesianerpater in einer Gemeinde bei Lissabon und im Schuldienst, später in Paris als Pfarrer. Erziehungswissendchaft in Portugal. Aufgrund seiner Heirat ist er seit 1980 Priester ohne Amt.
In: Zeitschrift des Ausländerbeirates der Stadt KasselGemeinsam“, Heft 11, April 1992, 5. Jahr


Familie im Wandel der Zeit

27. Mai 2010

Die Krise in der heutigen Familie

António Justo
Die Familie unterliegt seit ihrem Entstehen einem ständigen Wandlungsprozeß. Es gab immer schon Krisensymptome. Trotzdem hat die Familie überlebt und wird auch weiter überleben. Man kann feststellen, daß die wirtschaftliche Entwicklung die Familiengeschichte und das Bild von Familie maßgebend bedingt.
Zunächst verstand man unter Familie die Sippe als Rechts- und Schutzgemeinschaft und nicht als Lebensgemeinschaft. Ab dem 11. Jahrhundert verliert die Sippe an Bedeutung. Die Abstammungsfamilie wird immer mehr zur Haushaltsgemeinschaft, die ihr Vermögen zusammenhalten und für die Mitglieder nutzbar machen will.
Im 19. Jahrhundert entsteht die Kern- oder Kleinfamilie.

Der Ursprung der Kernfamilie im Abendland
ist begründet in
1.) einem Personenverständnis der jüdisch-christlichen Tradition und in der neuzeitlichen Aufklärung (Emanzipation);
2.) sowie in der Entwicklung des Bürgertums und der Industrie.

Der schnelle Wandel in der Familie ist eine direkte Folge des wirtschaftlichen Wachstums, das der Kapitalitsmus des 19. Jahrhunderts hervorbrachte. Die moderne Marktwirtschaft veränderte von Grund auf Werte und Verhalten. Sie führte zur Verdrängung der traditionellen Wirtschaft (Familie). Während die traditionelle Familie Treue gegenüber den Vorfahren und den zukünftigen Erben auf Kosten der Selbstverwirklichung forderte, steht jetzt in der Kleinfamilie der materielle Lebensstandard, Individualismus und Selbstverwirklichung im Vordergrund.

Der neue Staat seinerseits mit seinen Eingriffen in die persönliche Sphäre zwingt die Familie, ihre Selbstbestimmung und damit ihr Solidaritätsgefühl aufzugeben.
Die Industrie verlangt jetzt Arbeiter, die wie Soldaten rekrutiert werden. Damit entfernt sich die traditionelle Bevölkerung voneinander und wird entwurzelt. – Ein Beispiel dafür sind die Arbeitsemigranten und die geforderte Mobilität zugunsten des Arbeitsplatzes.

Die Logik des Marktes fordert zwingend den Individualismus. Das System hat nur dann Erfolg, wenn jeder Teilnehmer rücksichtlos seine eigenen Interessen verfolgt. Wirtschaftlicher Egoismus führt zum kulturellen Egoismus. Private Befriedigung wird wichtiger als sich dem Allgemeinwohl unterzuordnen.

Der Kapitalismus förderte den Wunsch, frei zu sein, den Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit und sexueller Entfaltung. Geschlechtsverkehr vor der Ehe und Partnerwahl geschieht jetzt auf der Grundlage persönlicher Anziehung (romantische Liebe) anstatt wirtschaftlicher Faktoren. In der Beziehung zwischen Mann und Frau taucht der Wunsch auf, frei zu sein. Interessant ist es zu beobachten, daß reiche Familien der sexuellen Revolution entgingen, weil sie die Werte der Familie über alles andere stellten. Die unteren Schichten hatten keinen Besitz zu vererben, daher konnten sie individuelle anstatt familiäre Ziele verfolgen. Die hochgepriesene „romantische Liebe“ bedeutete persönliche Selbständigkeit. Der Mittelstand (Ladenbesitzer, Bauern, kleine Handwerker) klammerten sich an anti-erotische und gemeinschaftsbezogene Werte der traditionellen Gesellschaft, um den Fortbestand des Geschlechts zu garantieren. Mutterliebe war der höchste Wert. Im Adel blieben diese Werte noch bis heute erhalten.
Wirtschaftliches Wachstum ermöglichte es, daß Frauen ihre Rolle als Arbeitskraft in der Produktion mit der Pflege des Kleinkindes vertauschten.

Die Kleinfamilie

Die Kleinfamilie (Vater, Mutter, 1- 2 Kinder) wurde besonders durch die bürgerliche Revolution in der Industriegesellschaft gefördert. Folglich gab es eine Konzentration auf das familiäre Klima. Arbeitsteilung, persönlicher Wert des Ehepartners, das Vermehren des Familienaggregats begünstigt den Binnenhandel und den Konsum. Idylle und Glück zu zweit. Die Idee von der romantischen Liebe ist nur scheinbar aus einer humanistischen Überzeugung heraus entstanden, sie ist Ergebnis und gleichzeitg Voraussetzung des neuen wirtschaftlichen Systems.

Konkurrenzdenken wird immer stärker. Man strebt ein eigenes Haus an – früher das Privileg einiger weniger – und für die Kinder das Hochschulstudium. Alles Erstrebenswerte wird nur auf die eigene kleine Familie begrenzt.

Die heutige Krise der Kleinfamilie verlangt eine neue Reflexion

Überlegt werden muß, was an den Veränderungen innerhalb des Familienbildes
1. Zerfallserscheinungen sind,
2. was Änderung einer gesellschaftlich bedingten Form bzw. überholte Leitbilder,
3. und was ein Fortschritt im Hinblick auf einen ganzheitlichen, humanen Anspruch darstellt.
Die Familie weist heute eine religiöse Entfremdung auf, die uns Sorge bereiten müßte. Verursacht wird diese religiöse Entfremdung auch berechtigterweise durch unnötige Härten innerhalb der herkömmlichen religiösen Institutionen, falsche Akzentsetzung und männliche Orientierung.
Früher, als die Ehe auf der Zeugung und Erziehung der Kinder aufgebaut war, wurde keine persönliche, reife Entscheidung vorausgesetzt, sondern sie war Resultat der Entscheidung des Familienoberhauptes im Interesse der Sippe.
Während die alte Familie viel stärker durch wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und traditionelle Aufgaben gesichert war, ist die Familie der modernen Gesellschaft viel mehr auf ihre geistigen, seelischen und moralischen Kräfte angewiesen. Dies birgt Gefahren und Chancen.

In einer modernen Welt, wo Ehe als Liebes- und Lebensgemeinschaft zwischen den Eheleuten verstanden wird, wird vom Individuum eine größere Reife und Bewußtseinsentwicklung verlangt.

Man läuft sogar in der Theologie Gefahr, die Kleinfamilie zu idealisieren. Auch der Satz des II. Vatikanums von der Ehe als Liebes – und Lebensgemeinschaft zwischen den Eheleuten kann die Idee der Familie als geschlossenem Kern fördern.

Der Glaube bindet uns nicht an ein Familienmodell oder an eine besondere Ideologie über Familie. Er hat Werte aufgrunddessen sich die Familienmodelle orientieren kann.

Vorteile der Kleinfamilie
Die Kleinfamilie beschleunigt die persönliche Reifung des einzelnen. Die Betroffenen bestimmen ihr eigenes Schicksal, sie sind zu Selbstverantwortlichkeit und Liebesfähigkeit aufgefordert. Das Kind wird im Gegensatz zu früher als Frucht der eigenen Liebe verstanden. Lebensvorstellungen müssen von der Kleinfamilie selbst verwirklicht werden.

Gefahren und Nachteile der Kleinfamilie
Unter den Gefahren und Nachteilen der Kleinfamilie ist die Einsamkeit der Eheleute zu nennen: sie sind allein und ohne Hilfe in ihren Gefühlskrisen, aufgesaugt in den familiären Verpflichtungen.

Die Kleinfamilie, die sich ausschließlich auf der romantischen Liebe aufgebaut hat, steht auf schwächeren Füßen, weil die sexuelle Zuneigung unbeständiger ist.

Die Frau wird an den Rand gedrängt durch ihre häuslichen Verpflichtungen und sich daraus ergebende Absonderung in der Aufgabe, die Kinder zu erziehen. Dem Vater wird Verantwortung abgesprochen, da er weit weg von der Familie arbeitet in einer immer bedeutungsloseren Beschäftigung (z. B. Schichtarbeit). Es entsteht eine vaterlose Gesellschaft.
Es mangelt an sozialen Möglichkeiten, auch für die Kinder, so daß sie schon in ihrer ersten Kindheit mit Komplexen beladen werden.
Die älteren Menschen werden aus dem sozialen Leben ausgeschlossen. Das Zusammenleben der verschiedenen Generationen jedoch wäre wichtig für eine seelische und geistige Unterstützung der Jüngeren.

Nebenprobleme

a) Protest gegen die familiäre Autorität

Als Ergebnis dieser industriellen Entwicklung stellen wir einen Verlust der familiären Autorität fest. Die Jugendlichen lehnen sich gegen die Eltern auf. Während man früher sein Leben lang an die Eltern gebunden blieb, ist es heute ein erklärtes Ziel, sich von den Eltern gefühlsmäßig zu lösen. Während das Arbeitsleben früher trotz seiner Härte, den Menschen als ganzes Wesen forderte und ihm dadurch Sinn gab, reduziert die heutige Produktionsgesellschaft den Menschen zur Maschine. Dadurch verlieren die Eltern ihre Rolle als Leitbilder. In einer Arbeitswelt, wo der Mensch zu einer maschinenhaften Arbeitsweise gezwungen wird und dabei seine Persönlichkeit und seine Würde einbüßt, gerät der Vater in Mißkredit vor den Kindern und kann für sie nicht mehr Modell sein.

Die Eltern büßen ihre Rolle als Erzieher ein. Sie scheinen immer mehr zu Fremden zu werden, nicht mehr zu Vertretern des Familiengeschlechts. Das Elternpaar weist eine wachsende Instabilität auf. Der Einfluß der Familie auf das Kind geht zurück zugunsten des Einflusses der Umwelt: das Fernsehen, die Schule; die Altersgenossen wirken stärker auf das Kind ein.

Die Gesellschaft, in der alles erlaubt ist, verursacht andererseits z. T. ein verstärktes autoritäres Verhalten der Eltern als Gegengewicht. Dadurch geraten die Kinder und Jugendlichen in einen Zwiespalt.

Auch die Gesellschaft, die von Konsumdenken bestimmt ist, kann keine Modelle und Leitbilder vermitteln. Menschenbilder sind mit Weltbildern verbunden. Wenn man sie reduziert auf individuelle, subjektive Bilder, z. B. Leben ausschließlich im Hier und Jetzt, materieller Wohlstand usw. wird ein verläßliches Menschenbild ausgelöscht. Die Gesellschaft klammert sich jetzt immer mehr an Bilder bzw. Werte der Massenmedien, Werbung etc. Die anonyme Gesellschaft konfrontiert den Menschen nur noch mit sich selbst als Individuum. Die Familie wird zum isolierten Kern und wird zudem als Werkzeug dieser Industriegesellschaft benützt. Die Konsumgesellschaft hat Interesse daran, daß es überwiegend Kleinfamilien oder gar Singles gibt, weil dies den Konsum steigert, z. B. es werden mehr Häuser, Wohnungen, Einrichtungsgegenstände usw. gebraucht. Auch der Nahrungsmittelverbrauch ist bei Singles bzw. in Kleinfamilien höher als in Großfamilien.

Parteien, Kirchen und Verbände machen im allgemeinen nichts gegen den Orientierungskonflikt zwischen beruflicher Entfaltung und Familiensinn. Die Arbeitswelt verlangt ebenso wie die Familie den totalen Einsatz.

b) Frauenemanzipation:

Die Frau identifiziert sich nicht mehr nur mit der Mutter- und Gattinnenrolle. Die industrielle Revolution ermöglichte ihr Selbstbestimmung, so daß sie die Ehe auch als ein Instrument der Unterdrückung und Entfremdung erlebt. Der Mann nimmt die Frau nicht nur als Hausfrau wahr, sondern auch als Kollegin und Partnerin in sozial anerkannten Bereichen.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten stellen wir eine Aufwertung der weiblichen Sexualität fest. Sexualität wird begriffen als Mittel des Dialogs, der nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Familiengründung und der Ehe gesehen wird. Dies bringt die Frau auch aus ihrer passiven Rolle heraus. Sie wird zur verantwortlichen Person und eigenständigen Partnerin.

Die Frau hat nicht nur eine relative Gleichberechtigung erreicht, sondern es entstand auch eine Verwischung der Unterschiede zwischen Mann und Frau. Die Emanzipation wurde zweifellos sehr stark durch die Industriegesellschaft vorangetrieben. Hier muß die Frau aufmerksam sein, daß ihr nicht das gleiche geschieht wie dem Mann, d. h. daß die Frau nicht wie der Mann nach dem Männerbild der Industriegesellschaft umfunktioniert wird. Die unterschiedlichen Fähigkeiten von Mann und Frau sollten als Bereicherung wahrgenommen werden.

Eine wohlverstandene Emanzipation der Frau, die aus einem Personen- und Individualitätsbewußtsein kommt, würde zu einer geistigen Vertiefung des einzelnen und zu einer reiferen zwischenmenschlichen Beziehung führen. Dies könnte auch die innere Entfaltung des Mannes als Folge haben.

Konstruktive Kritik

Wir leben in gewisser Weise in einer totalitären Gesellschaft, in der die Bedürfnisse manipuliert bzw. künstlich geschaffen werden durch Industrie, Massenmedien und Politik mit dem Ziel, mehr Konsum und Abhängigkeit bzw. Zügelung des Menschen zu erreichen. Dabei soll das kritische Denken ausgeschaltet werden. Dahinter steckt die Absicht, den Menschen einfacher handhaben zu können. Der Mensch kommt dahin, daß er auf die menschliche Würde verzichtet.

Die Gesellschaft und Politik, teilweise auch die Religion werden von Technik und Wirtschaft beherrscht. Sie bedingen und kontrollieren die gesellschaftliche Anpassung der Massen. Bürokratie wird immer weniger zum Dienst und immer mehr zur Kontrolle.

Politiker sehen die Familie hauptsächlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, z. B. als Institution zur kostengünstigen Kinderpflege. Die Familie wird nicht ernstgenommen bzw. als Werkzeug benutzt durch eine falsch verstandene sozialdemokratische Sozialpolitik (Familie als Überbleibsel von Konservativismus und Bourgoisie), die sich verbinden mit den Neokonservativen, die in der Familie eine Möglichkeit sehen, ihre Mißwirtschaft zu retten. Ökonomische Defizite sollen von der einzelnen Familie ausgeglichen werden, z. B. indem sie weitgehend für die Erziehung und das Studium der Kinder aufkommen muß, ebenso bei der Kostenübernahme für Eltern oder Kinder im Falle von Arbeitslosigkeit und Abgleiten in die Sozialhilfe etc.

Die Gesellschaft lebt von der Spannung zwischen individuellem Wohl und Allgemeinwohl. Es wäre eine Täuschung zu glauben, daß das Allgemeinwohl lediglich die Summe des persönlichen Wohls aller ist.

Die Industriegesellschaft leidet an Entseelung, Anonymität, Vereinsamung, Bürokratisierung und Allmacht des Staates. Hier hat die Familie eine besondere Aufgabe zum Schutz der Persönlichkeit, Freiheit, Moral und hat eine unmittelbare Verantwortung bei der Zukunftsgestaltung. Sie ist die einzige Institution, die durch alle Zeiten hindurch bleibt. Das Wohlergehen der Person und Gesellschaft sind vom Wohlergehen der Ehe und Familie abzuleiten.

Familie könnte bewußt als Gegenpol zu einer immer gleichförmiger werdenden Gesellschaft gefördert werden. Das setzt ein anderes Bewußtsein von Gesellschaft und Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und der Individuen voraus. Sie sollte Maßstab der gesellschaftlichen Entwicklung sein, und nicht der Entwicklung hinterherlaufen.

Vorschläge

Es ist eine kind- und familiengerechte Stadtplanung nötig, wo Lebensräume und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden, so daß Familien in eine lebendige Gemeinschaft hineinwachsen, wo sich Vater, Mutter und Kinder in einer Vielfältigkeit von Modellen ausdrücken können und wo Kinder die Möglichkeit haben, sich mit der Erwachsenenwelt zu identifizieren. Es ist eine Ausweitung der Familie notwendig, so daß Kinder nicht nur an die eigene Familie gebunden sind. Würde die Isolierung der Familie aufhören und in größeren Gemeinschaften, z. B. in Wohngebietsgemeinschaften tatsächlich eingebettet sein, könnte sich jeder sinnvoll mit seinen Fähigkeiten einbringen und nach außen wirken. Ein extremes Beispiel dafür wäre eine Art Kibbuz. Wenn eine solche Form des Zusammenlebens auch nicht das Erstrebenswerteste sein muß, könnte die Gesellschaft doch stärker in diese Richtung gehen. Dies würde sich auch dahingehend auswirken, daß ein familiärer Egoismus und die familiäre Abkapselung abgebaut werden. Neue Gefühlsbindungen könnten dabei entstehen mit dem Ziel einer interfamiliären Gesellschaft.
Wir brauchen ein neues Gefüge von Möglichkeiten, in dem die Familie sich entfalten kann.

Die Stärkung der Familie setzt auf der äußerlichen Ebene voraus: Arbeitszeitverkürzung und eine andere Arbeitszeitverteilung, familienfreundliche Wohnungsbaupolitik, die nicht nur die Kleinfamilie im Blickfeld hat, sondern auch ein Zusammenleben mehrerer Generationen ermöglicht, außerdem finanzielle Verbesserungen für Familien und mehr Bildungs- und Berufschancen für Frauen.

Schlußfolgerungen

In der Familie findet der Austausch der Güter und Dienste auf der Grundlage der Liebe statt. Das Ideal wäre, in der Familie einen vollkommenen Kommunismus nach der Formel zu praktizieren: Jeder gibt nach seinem Können und jeder erhält nach seinem Bedarf. Dies bedeutet Ansporn zu Selbstlosigkeit, Hingabe, Opferbereitschaft und Selbstüberwindung. Die Familie wird zu einem Ort, in dem Empfindungen und Überzeugungen gemeinsam gelebt und auf die kommende Generation übertragen und im Alltag verwirklicht werden.

Die Familie weist hinaus auf die Menschheitsfamilie, da in ihr der Grundstein gelegt wird für das Verbundensein mit anderen Menschen und sie ist gleichzeitig Symbol der Einheit.

Dom Helder Câmara sagt: „Entscheidet Euch ein für alle Mal für die Menschheitsfamilie. Lebt im Maßstab der Erde oder besser noch des Universums.“

António da Cunha Duarte Justo
Vortrag gehalten in der Stadthalle Baunatal
April 1992