Ideale zwischen religiöser Abhängigkeit und politischer Abhängigkeit
In diesem Buch (*) versuche ich den Beitrag der Reformation für die Entwicklung der Emanzipation und Demokratie zu betonen.
In der Renaissance richtet der Mensch seinen Blick auf die Erde, und auf den Menschen… Da entsteht eine neuere Sichtweise, einer neuen Mentalität. Die Deduktive Methode – Überbetonung der Theorie in der Beweisführung der Wissenschaft (Scholastik) – bekommt Konkurrenz mit der Induktiven Methode als Argumentation aus der Erfahrung. Diese entsprach einer anderen geistigen Strömung – zentriert in der Natur des Menschen – und führt zur Autonomie des Subjekts (Humanismus).
Der Protestantismus verkörpert diese geistige Strömung der Renaissance und wird entsprechend realistisch-anthropozentrisch. Ich würde sagen, dass der Katholizismus heute noch mehr zur deduktiven Art des Denkens neigt und die Evangelische zur induktiven Art des Denkens (Empirismus).
FREIHEIT UND BRÜDERLICHKEIT
Die Übersetzung der Bibel in die Umgangssprache ermöglicht den direkten Zugang zu ungefilterten heiligen Texten.
Luther hebt den Grundsatz hervor: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (Paulus an die Römer: Die Freiheit wird durch die Liebe verpflichtet: »Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu jedermanns Knecht gemacht«. Der Widerspruch wird gelöst in der christlichen Annahme, dass „ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus durch den Glauben und in seinem Nächsten durch die Liebe“). Hier geht es um eine Freiheit die auch von religiösen Zwängen befreit, sogar von den Pflichten das Heil selbst zu verdienen.
Luther macht den Transfer der Spiritualität von dem Gravitationszentrum der Gemeinschaft auf dem Gravitationszentrum des Individuums. (Benedikt XVI in der Tradition der Theologie: „Über dem Papst liegt das eigene Gewissen, dem man notfalls auch gegen das, was die kirchliche Autorität sagt, gehorchen muss“.
Man könnte zusammenfassen, dass mit dem Protestantismus die Zeit reif wurde für die Demokratisierung der Bibel und die Demokratisierung Gottes.
Alle Gläubigen sind Priester, erleuchtet vom Heiligen Geist. Die Pastoren werden gewählt: Institutionalisierung demokratischer Vorgehensweisen,
Behauptung des Ichs gegenüber das Wir! Die Privatisierung der Würde und Autorität des Individuums als Gegenstück zur gemeinschaftlichen Autorität (Institution) führt zu individuellen und sozialen emanzipatorischen Antrieben, zur Behauptung der politisch säkularen Kräfte gegenüber der religiösen und lenkt die inneren Werte nach außen in der Gesellschaft (Säkularisationsprozess).
Luther macht den Transfer der Spiritualität von dem Gravitationszentrum der Gemeinschaft zum Gravitationszentrum des Individuums. (Benedikt XVI in der Tradition der Theologie: „“Über dem Papst liegt das eigene Gewissen, dem man notfalls auch gegen das, was die kirchliche Autorität sagt, gehorchen muss“
Gewissensfreiheit und Gleichheit werden zu revolutionären Prinzipien der Zukunft
Luthers Begriff der Freiheit (1520) wurde von den aufständischen Bauern für den Deutschen Bauernkrieg benutzt.
Die Thesen Luthers verursachen eine Revolution, die er nicht wollte, und nicht im Namen der Bibel gerechtfertigt sehen wollte.
Gerade er, der sich vom Papst befreien will, wird danach auf die Unterstützung der Fürsten angewiesen sein. Luther erhebt sich gegen seinen Schüler Thomas Münzer, der die Bauernbewegung mit der Idee unterstützte, einen „evangelikalen Kommunismus“ in die Welt zu tragen.
Die Gleichheit jedes Menschen beruhte auf dem Glauben an die Schöpfung und Autonomie des Menschen.
Von der religiösen Gemeinschaft zur politischen Gemeinschaft
Die Menschen bewegen sich von religiöser Abhängigkeit zu politischer Abhängigkeit.
Die Prämisse, dass „alle vor Gott gleich sind“, setzt, nach der Meinung des Theologen François Euvré, die Einführung einer horizontalen Auffassung der Gesellschaft voraus.
Das Mittelalter setzte auf Vertikalität, Höhe (Innerlichkeit) und die Moderne akzentuiert Horizontalität, Breite (Exteriotität); sicherlich, die Zukunft wird sich sehnen nach der Inklusion von Vertikalität und Horizontalität als komplementäre Faktoren des Lebens.
Es wird die Vorstellung vom ‚Vater Staat‘ gefördert (gegen Rom) und es wird die Konstantinische Maxime des „Cuius regio, eius religio“ gepflegt (von wem die Region ist, von dem ist die Religion). Dies war die Grundlage des erreichten Kompromisses zwischen der katholischen und der lutherischen Region im Augsburger Bekenntnis 1530.
Europäische Wertegemeinschaft zwischen Luther und Machiavelli: Verhältnis von Politik und Staat
Heute, wie in der Vergangenheit, sind die Völker und Gruppen durch die kulturellen, ideologischen und religiösen Grenzen geteilt. Nach wie vor versuchen religiöse, wissenschaftliche oder ideologische Gruppen neue Grenzen zu schaffen, die ihnen ihre eigene Identität und Legitimität verleihen. Demarkationen trennen die Länder des Nordens von den Ländern des Südens. Weltliche Demokratien mit ihren Ideologien sowie vormoderne archaische Gesellschaften, in denen religiöse Gefühle und Ideen wie Würde und Ehre wesentliche Werte sind, werden jetzt durch ähnliche Grenzen geteilt…
Luther will das Verhältnis von Politik und Staat (politisches Handeln) nach der christlichen Tradition: in einer Verpflichtung der Gewissens-Freiheit-Moral, damit der Fürst vor Gott handelt und als solcher gerecht ist. Luther argumentiert nach biblischen Grundsätzen: „Ein guter Baum trägt gute Früchte.“ http://www.luther2017.de/print/22529
Für Machiavelli gilt nicht, dass der Prinz sich von ethischen Überlegungen leiten lassen soll, denn für ihn sind die Menschen Masse; so hat sich der Prinz nicht am Sein zu orientieren, sondern an den Meinungen. Macht wird nicht durch Moral, sondern durch Erfolg beurteilt und gemessen. Gewissen und Schuld sind für Machiavelli nur als Berechnungen im Machtspiel zu berücksichtigen.
Luther unterwirft sich den Fürsten, beharrt aber auf der Vorstellung, dass die Macht des Fürsten im menschlichen Gewissen seine Grenze findet
Ökumene
Der Ökumenismus ist die Einheit in der Vielfalt; es ist die Zeit der Kooperation und nicht mehr des Widerspruchs. Der Papst sprach sich in Lund für einen „differenzierten Konsens“ aus, auf dem Weg einer differenzierten Einheit zwischen Katholiken und Protestanten. (Rivalität auch zwischen Dominikanern und Augustinern!)
Die Punkte der Zwietracht: Doktrin der Rechtfertigung durch den Glauben (Sola Fides, Römer 3:28) (nur der Glaube an die Verdienste Christi rettet); die einzige Regel des Glaubens und die einzige Autorität ist die Schrift – von der individuellen Vernunft interpretiert; und da das Maß der göttlichen Gerechtigkeit Gnade/ Barmherzigkeit ist, hängt die Errettung nur von der göttlichen Gnade ab, die durch den Erlöser ausgeübt wird. Luther stellt die Kirche als Vermittler und Jünger in Frage so wie die guten Werke (Zwingli hatte vor Luther die Theorie der Ineffizienzen guter Werke verteidigt, der Mensch hat nicht die Freiheit Gutes zu tun, wegen der Natur der Sünden. (Ablässe!).
Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre
Deutschland und die Schweiz sind Beispiele für wohlhabende und ausgeglichene Gesellschaften, die eine gewisse Zurückhaltung zwischen dem (katholischen) Gemeinschaftsprinzip und dem individuellen (protestantischen) Prinzip erreicht haben. Deutschland integriert die katholische Achse der Gemeinschaft und die protestantische Achse der Individualität.
„Wir bekennen gemeinsam, dass der Mensch im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit die auf ihr Heil bezogen ist. Das heißt, als Sünder steht er unter dem Gericht Gottes und ist unfähig, sich von sich aus Gott für seine Rettung zuzuwenden. Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade.“ („Confessamos juntos: somente por graça, na fé na obra salvífica de Cristo, e não por causa de nosso mérito, somos aceitos por Deus e recebemos o Espírito Santo, que nos renova os corações e nos capacita e chama para as boas obras“)
Politische Aktivität und christliches Bewusstsein
Der christliche Politiker steht im Konflikt mit seiner Ethik der Überzeugung und einer Ethik der sozialen Verantwortung. Er beschäftigt sich mit der Schaffung von stabilen Beziehungen und ist in erster Linie auf die Person ausgerichtet und hat eine Vorliebe: die wehrloseste in der Gesellschaft.
Das bloße Gesetz als Richtschnur tötet den Flügel des Traums, das was uns menschlich macht. Nicht die Autonomie der Person begründet die Menschenrechte, sondern die Menschenwürde und die Autonomie die ihr zugrunde liegt. Moralische Konzepte reichen nicht aus, um die Menschenrechte zu rechtfertigen; Eine verantwortungsvolle Ethik ist immer persönlich.
Das Christentum ist transkulturell (nicht die Religion einer Rasse, eines Volkes oder eine Kultur). Christentum ist nicht Christianity, es ist mehr als eine Religion, daher wird die Menschenwürde unabhängig von der Religion und als solche global und gültig definiert.
Wie der Historiker Heinrich August Winkler feststellt, verdankt die westliche Zivilisation ihre Entwicklung zwei Prinzipien: „Die Idee, dass dem Menschen eine angeborene Würde zukommt, ist religiöser, jüdisch-christlicher Herkunft“, ebenso wie die Idee der Gewaltenteilung (säkular und religiös). „Das Völkerrecht ist eine westliche Eroberung.“
Paulus sagte, dass der Mensch berufen ist die Freiheit in Solidarität mit dem Menschen als Begleiter zu verwirklichen. Der Mensch ist der Ort der Freiheit!
In christlichen Begriffen bedeutet die menschliche Würde den Sinn des Lebens und die Auferstehung gibt ihnen Optimismus. Der Christ ist berufen, sich vor allem mit dem Teil des Lebens, der auf der Erde passiert, zu beschäftigen.
TOLERANZ
Viele katalogisieren Luther als Intolerant. Die heutige Intoleranz, die nicht die lokale Farbe der Vergangenheitsfiguren in ihrem historischen Kontext erkennt, katalogisiert solche Persönlichkeiten einfach als intolerant.
Die Eliten können nur Macht erzeugen, indem sie auf Klassen, ethnische Gruppen, Religionen, Ideologien, Parteien und Staaten verweisen, um die (kulturelle) Identität für die Aggregation von Macht zu nutzen und von ihr zu profitieren.
Eine freie und offene Gesellschaft ermöglicht den Gegnern, in Würde zu leben. Das Prinzip der Toleranz darf aber nicht die eigenen Überzeugungen neutralisieren. Es bleibt „die Pflicht gegenüber sich selbst“, wie der Philosoph Kant sagt.
Auch die Faktoren Gemeinschaft (katholisch) und Individuation (protestantisch) sind notwendige komplementäre Kräfte.
António da Cunha Duarte Justo
(*) Hier stelle ich einige Ideen aus meinem Buch auf Deutsch vor: “Lutero garante a Emancipação como princípio impulsionador da Idade Moderna – Ideais entre Dependência religiosa e Dependência política”, in http://amzn.to/2gPqOCb ou http://amzn.to/2yx0SmB
„Im Schatten des Irrtums erahnt man die Wahrheit. Der Kern des Problems besteht in der Anstrengung, das Licht vom Schatten zu trennen. Dieser Versuch bleibt immer als ein Prozess bestehen und als solcher gibt er denen recht, die irren und denen, die es erfassen.“
In “Poesia e Aforismos”, António Justo