RELIGION ALS FÖRDERNDER UND HEMMENDER FAKTOR IN DER ENTWICKLUNG DER VÖLKER

17. Juli 2017

Vortrag von António Justo

Liebe Anwesende!

Mit diesem Vortrag möchte ich uns die Gelegenheit geben, über ein Thema nachzudenken, das noch zu wenig im Bewusstsein unserer
Gesellschaft ist. Dabei können natürlich nur einige Aspekte berührt werden, die mir als wichtig erscheinen.

Ich möchte als erstes stichwortartig auf die gegenwärtige Situation eingehen, d.h. auf einige Aspekte der gegenwärtigen Sinnkrise in Europa.

Dann möchte ich mögliche Probleme der Auseinandersetzung zwischen den Kulturen antippen und erörtern, was für ein Geist hinter dem Teufelskreis des Kulturkampfes steht. Des Weiteren spreche ich über die Neuentdeckung des Mythos als Verstehens Horizont und über Wege zur Gemeinsamkeit der Kulturen.

Zur gegenwärtigen Situation

Ist die europäische Zivilisation gefährdet oder stellt sie eine Bedrohung für andere Zivilisationen dar? Im sogenannten Westen neigt man dazu, unsere Gesellschaftsordnung als etwas Endgültiges, als das gelobte Land zu sehen. Historiker sagen, dass die westliche Kultur zu einer Sicherheitszone geworden ist und das „goldene Zeitalter“ lebt. Wie damals die Pax Romana so erscheint heute die Pax Europea. Ist andererseits heute das Wiedererstarken des Islam, der ein Fünftel der Menschheit umfasst und sein Kampf gegen die Moderne, sowie die Dynamik Asiens eine Gefahr für Europa wie damals die Barbaren für Rom?

Oswald Spengler beschreibt in „Der Untergang des Abendlandes“ Geschichte als „die Geschichte der großen Kulturen“ und entwirft keine rosigen Szenarien, so wie noch aktualisierter Samuel P. Huntington im Buch „Kampf der Kulturen Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“. Er geht weiter und behauptet: „Die gefährlichen Konflikte der Zukunft ergeben sich wahrscheinlich aus dem Zusammenwirken von westlicher Arroganz, islamischer Unduldsamkeit und sinischem (d. h. chinesischem) Auftrumpfen.“ In der Welt gibt es heute mehr Kriege und Konflikte als je Zuvor.

Anzeichen von Schwäche des Westens

Bis jetzt haben sich aufgehende Kulturen hervorgetan durch Überschuss, der sich in Stärke auf den Gebieten des Militärs, der Religion, Politik und Wirtschaft ausgedrückt hat. Heute fließt das Überangebot mehr in den Konsum. Die Menschen zehren von Kapital und verzehren Kultur. Alles dient dem leiblichen oder momentanen Vohl, dos sehr kurzlebig ist. Auch Kultur wird zum Konsumgut. Sie sorgt sich die Individueller und kollektiver Konsum geht sogar auf Kosten zukünftiger Generationen. Demnach befinden wir uns in einer Phase der Dekadenz. Diese Dekadenzerscheinungen sind denen anderer untergegangener Kulturen ähnlich. Müssen wir uns von daher sorgen, dass die Dekadenzerscheinungen Europas ebenfalls unsere Zivilisation zugrunde richten werden? Oder ist eine universale Kultur im Entstehen?

Die Dekadenz wird besonders in folgenden Erscheinungen ersichtlich

Religiöse, geistige, soziale und politische Institutionen üben keine Anziehungskraft mehr auf die Massen des Volkes aus. Das Volk findet in ihnen keine Orientierungen mehr. Die Politik vermittelt manchmal den Eindruck, zum Handwerk der Entmachtung der Massen zu verkommen und die die Macht der Wirtschaft.

Die Werte der Zivilisation greifen und begeistern nicht mehr. Die Individualisierung und Privatisierung von Moral schreitet weiter fort. Man sagt: „Andere Völker andere Sitten“. Man abstrahiert, um nicht konkret handeln zu müssen. Pluralisierung relativiert „Gut“ und „Böse“. Man schaut auf das Ergebnis, nicht auf das Verhalten. In vorindustriellen Kulturen gab es noch das „Heilige“ in der Religion, das „Wahre“ in der Metaphysik und das „Gute“ in der Ethik. Im Industriezeitalter hängen diese Werte als austauschbar gemäß dem Gesetz von Angebot und Nachfrage ab. Die Werte unterliegen den Handelsgesetzen. Anstelle von absoluten Werte treten die Grenzwerte auf Die Konkurrenz der Werte führt zur Anarchie, wo die Lautstärke sich durchsetzt und nicht das Gute. Die Industrialisierung und die Weltkriege haben die gewachsenen Lebensverhältnisse und damit das System der gesellschaftlichen Anpassungsmechanismen zerstört. Moralischer Verfall breitet sich aus: Kriminalität (asoziales Verhalten), Drogen, Gewalt, Krankheit, Verfall der Familie, Schwinden zwischenmenschlichen Vertrauens, Nachlassen der Arbeitsmoral (Arbeit dient der Erfüllung persönlicher Wünsche), Desinteresse an geistiger Betätigung.

Das natürliche Bevölkerungswachstum ist rückläufig in Europa. Es wird ausgeglichen durch eine spontane Einwanderung (Armutseinwanderung neigt oft zur Ghettobildung). Der soziale Zusammenhalt wurde untergraben durch die Kombination von Einwanderung wegen Arbeitskräftemangel auf der einen Seite, Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite, zudem wurde der Zusammenhalt destabilisiert durch Drogen und Kriminalität.

Indem das Christentum sich nicht als Selbstzweck sah und sich der Weltpolitik gestellt hat, hat es scheinbar an Selbstbehauptung eingebüßt, verglichen mit anderen Religionen. Durch die Moderne und den „Tod Gottes“ kam zu einer Desorientierung im Christentum. Diese Desorientierung wurde von einer Schwächung, Gleichgültigkeit und Verteufelung begleitet. Gegenüber einer Starrheit und Geschlossenheit der Institution Kirche profilieren sich gegnerische Gruppen und politische Konkurrenten. Intellektuelle, Politiker, Journalisten, Moralisten machen alles um ein geistiges „Niemandsland“ zu schaffen im Namen des Internationalismus und des Individualismus. Damit schaffen sie verbrannte Erde, wo Religion und Kultur nur noch Folklore sind. Politiker und die Macher der Massenmedien bauen sich oft durch Kulturzerstörung auf, ohne einen Bezug zur eigener Kultur tiefgreifenden philosophischen und theologischen Wandlung der Kulturinhalte zu haben.

– Seit den siebziger Jahren, als das ökonomische Wachstum ihre Grenzen erreichte, entwickelte sich ein ideologischer und existentieller Pessimismus. Man schwamm im Überfluss und ertappte sich dabei als der Ausnutzer anderer Völker. Ein zur Mode werdender Internationalismus definierte sich dann hauptsächlich über Negativpunkte der eigenen Kultur. Dies scheint mehr eine Neigung zur Selbstzerstörung zu sein als die Erkennung der eigenen Schuld an der heutigen Weltmisere. Man übergeht das Schuldgefühl gegenüber anderen Völkern nach dem Motto: der gestrigen Schuld der anderen ist einfacher zu begegnen, sie ist einfacher zu bewältigen als die eigene existenzielle und soziale heutige Schuld wahrzunehmen. Dann spricht man pauschalierend leicht über Hexenverbrennung, Kreuzzüge, Kolonisierung ohne Bezugspunkt als Entschuldigung der eigene Schuld und als Verständnis für die eigenen Barbareien und der Barbarei anderen Kulturen der heutigen Welt. Die Verpflichtung zum Internationalismus kommt nicht aus einer Überzeugung. Sie wird zum Zwang zur Toleranz, zum oberflächlichen Dialog, der Probleme und Grenzen des Dialogs unterschlägt. Z. B. wenn man Unterdrückung in anderen Kulturen als kulturelles Phänomen rechtfertigt und damit fördert.

– Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich die Nationen an die zwei großen Ideologien orientiert, die auch als Schutz dienten. Diese Situation hatte eine bestimmte Form von Identität geprägt, die an zwei Gefälle gebunden war. Man definierte sich als Block. Nach dem kalten Krieg wird Identität durch Kultur bzw. Religion definiert. Der Kampf wurde verlagert.

Das Scheitern des Marxismus bringt den Zusammenbruch der Moderne; und auch der westliche Liberalismus wird mit seiner turbo-kapitalistischen Praxis immer fragwürdiger. Mit dem scheinbaren Verfall des Kommunismus befindet sich Europa in der Krise der Reflexion und damit in einer Krisis der Identität. Es mangelt an einer offenen Identität, die einer reflexiven Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen Rechnung trägt. Europa findet nicht zu sich selbst, und dadurch kann es auch zu den anderen nicht hinfinden.

Es gibt zu viel Ideologie im Vakuum der Überzeugungen. Der Westen neigt immer mehr dazu, sich durch ein politisches Credo zu definieren und diese Ideologie wird am Wohlstand gemessen. Der europäische Geist, würde Kant sagen, muss sich aber an die praktische Vernunft und dem ethischen Imperativ orientieren. Die Überbewertung der Logik führt zur gewaltsamen Form der Durchsetzung.

Einerseits wird westliche Identität definiert durch das Credo von Freiheit, Demokratie, Individualismus, Gleichheit vor dem Gesetz, Achtung vor Verfassung, Privateigentum und Menschenrechten. Aber diese Glaubenssätze haben keinen tieferen Grund, werden nicht gelebt und laufen Gefahr, nur Ideologie zu werden. Während für die Internationalisten diese europäischen kulturellen Werte als einzigartig in der Welt angesehen werden, sehen Multikulturalisten Identität als Schimpfwort: sie sehen Gesellschaft als Ansammlung von Mikrowelten rassischer und ethnischer Art.

Multikulturalisten sind oft ethnozentrische Individualisten, die mit ihrer Forderung gegen Integration zurück zum Mythos des unschuldigen Primitiven neigen. Die
Multikulturalisten ersetzen die universelle Rechte von Individuen durch Rechte von Gruppen, so dass die Individuen sich definieren über Rasse, Ethnizität, geschlechtlicher Zugehörigkeit, sexuelle Präferenz etc. Andererseits die Einheit von multikulturellen Staaten (Russland, Jugoslawien…) wird aufgegeben.

Die Lösung unserer Problematik geschieht durch eine reflektierte, offene Identität, die inklusiv ist. Für Kant ist Identität ein Begriff der Reflexion, da Identität entweder reflektierte oder keine ist. Zur Identität gehören zwei Aspekte: Was Wir selbst sind und was uns von anderen unterscheidet (Dialektik). Identität geschieht in der Komplementarität verschiedener Wirklichkeiten. Karl Jaspers definiert Europa als Freiheit. Für den europäischen Rat sie ist Freiheit, Geschichte und Wissenschaft, sie ist der Ort der Menschenrechte. Wesentliche Merkmale sind Pluralismus, Unterschiedlichkeit, Respekt und Toleranz. Identität haben bedeutet, ein Zuhause haben können, nicht mehr allein im Ich gefangen zu sein und nicht nur aus dem Ich die Kraft schöpfen.

Europa fehlt heute ein Bewusstsein von Richtung und Sinn. Es wurde zu sehr eine Wirtschafts- und Währungsunion und wird von den einzelnen Nationen als Werkzeug zur Erlangung von Einfluss und Sicherung günstiger Bedingungen nationaler Art benutzt auf Kosten jeglicher kulturelleren Eigenheit. Ein Beispiel: eine Delegation der iranischen Regierung hat bei einem Staatsbesuch in Deutschland verlangt, dass auf dem Tisch keine alkoholischen Getränke stehen dürften, sonst würde sie den Saal verlassen. Die deutschen Politiker mit Ausnahme eines einzigen deutschen Abgeordneten, der den Saal verließ, gingen auf diesen Wunsch ein. Zuvor waren die deutschen Politiker im Iran und hatten sich dort auch den dortigen Gepflogenheiten unterworfen.

– Der technologische Fortschritt bringt innerhalb und außerhalb Europas vielschichtige Schwierigkeiten. Andere Kulturen akzeptieren das Resultat der abendländischen Entwicklung (Technologie und Wissenschaft), werden dadurch stärker, stellen sich aber quer gegen den politischen Liberalismus.

Die Identitätserkrankung sowohl des Westens wie des einzelnen wird immer mehr thematisiert werden müssen. Wir haben die Grenzen der Individualität schon überschritten, indem wir uns nur noch auf das Ego beziehen. Die Beantwortung dieser Frage des Untergangs unserer Kultur hängt davon ab, inwieweit wir uns von unserem selbst-betäubenden Ego-Trip distanzieren können.

Die Stärke des Westens ist der Stärkung des Subjekts zu verdanken. Der Untergang könnte aber auch durch die Fixierung an das Ego verursacht werden. Denn Voraussetzung für ein Ich ist das Wir. Das müssen wir wieder von anderen Kulturen lernen und dies aus der Mitte der eigenen Kultur herausfinden. Dieses Bedürfnis wird langsam angedeutet, jedoch seltsamerweise aus den Reihen des Militärs. Interessanterweise spricht man in letzter Zeit von der NATO als Wertegemeinschaft. Der britische Verteidigungsminister Malcolm sagt, dass die atlantische Gemeinschaft auf 4 Säulen ruhe: „Verteidigung und Sicherheit innerhalb der Struktur der NATO; gemeinsamer Glaube an Rechtsstaatlichkeit und parlamentarische Demokratie; liberaler Kapitalismus und freier Handel; das gemeinsame Kulturerbe Europas, ausgehend von Griechenland und Rom über die Renaissance bis zu den gemeinsamen Werten und Überzeugungen und der gemeinsamen Kultur unseres eigenen Jahrhunderts. “

Es ist ein schlechtes Zeichen für unsere Gesellschaft, dass solche Äußerungen von einem Verteidigungsminister kommen und nicht aus der Kulturwelt oder von anderen politisch Verantwortlichen. Sind Militärs paradoxerweise eher in der Lage, Weltzusammenhänge zu erkennen?

Der Westen hat sich blenden lassen und sich extrem ausgelebt in der Naturwissenschaft und Verselbständigung der Technik die mit sich Philosophie und Theologie bzw. Humanwissenschaften an sich gezogen und in ihre Funktion gestellt, so dass unsere materielle Dimension sich sehr verbessert hat und die moralisch-geistige und kulturelle Dimension darunter krankt. Unsere Gesellschaft leidet am Totalitätsanspruch der Wirtschaft, die alle Lebensbereiche reguliert und reglementiert. Dadurch entstand eine Lücke, die die Sinnfrage ausklammert bzw. die ganze Lebensphilosophie und ihre Begründung an Nebenschauplätze verweist, als ob die Zauberwörter Demokratie und Freiheit der Schlüssel der Großen Fragen wäre. Dass alles gefolgt von einer Politik, die die Befreiung des Menschen nur als politische Befreiung versteht. Sie reduziert den Aufbau des Glücks auf die ökonomische Unabhängigkeit und es wird dem Menschen, als Gegenleistung der Vorteil angeboten, am demokratischen Prozess Anteil zu nehmen. Der Mensch wird nicht als ganze Person, sondern in seiner Funktionalität angesehen. Die bindenden Traditionen werden ersetzt durch die Vorgaben, ein eigenes Leben zu organisieren. Der Preis für die Selbstbestimmung in der Moral wird von Sartre in der La Nausée erwähnt: „Dieser Typ hat keinen Wert für die Gesellschaft, er ist nichts als ein Individuum.“ Mit den Tod Gottes wurde auch die Person getötet. Nec cum te, nec sine te…Die Gegenwart Gottes ist ein Ärgernis; die Abwesenheit Gottes ist eine Qual.

Die westliche Kultur muss die Einseitigkeit von Wissenschaft und Technologie überwinden. Die Technik gewann die Oberhand, und sie fragt nicht nach dem Wesen der Dinge, sondern nach der Funktion. Es geht um Ursache und Wirkung in der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung. Auch die moderne westliche Philosophie ist weitgehend funktionalistisch. Sie interessiert sich nur für das Wofür, nicht für das Sein, für das Woher und Warum, weil man davon ausgeht, dass der Mensch sich noch im Werden befindet. So wird auch Gott nach seiner Funktion für die Welt gefragt, nach seiner Nützlichkeit und somit in die Rente geschickt. Die Religion wird zum Altersheim Gottes.

Naturwissenschaft reduziert das Wahre auf das Verständliche, das mit dem Verstand Verifizierbare.

Kann die Philosophie weiterhin nur mit der Vernunft als einziges Instrument der Inteligibilität zur Deutung und Begründung reichen?

Kann die Theologie weiterhin festhalten an einer monotheistischen Tradition (und ihres marxistischen Anhangs) um für das zeitliche Wohl der Menschheit arbeiten zu können? Muss der afrikanische und asiatische Geist sich der profanen universalen Technologie opfern, die, obwohl befreiend, betäubt und die Vielfalt ausschaltet?

Wie kann man die inneren Verfallsprozesse aufhalten und umkehren und zu einem Weltbewußtsein gelangen?

Gemeinsamkeiten der Kulturen suchen
Durch Überwindung der Ideologien

Die Wurzel aller Kulturen sind die Religionen. Religionen waren und sind mehr oder weniger direkt wesentlicher Bestandteil der Identität einer Kultur.

Oft muss man beobachten, dass die unterschiedlichen Formen des Glaubens Menschen voneinander trennen. Glaube kann Feindseligkeit, Trennung und Zerstörung bringen, und das ist nicht Religion. Die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensformen oder Religionen setzt voraus, dass man die Relativität von Bildern, Ritualen und Glaubenssätzen sieht. Nur dann kann man sich durch das Zeitlose, das über diesen Äußerlichkeiten steht, begegnen.

Glaube an Gott, d. h. Glaube im Sinne des Fürwahrhaltens, Rituale, Zeremonien sind nicht Religion, sie sind Formeln. Bilder können Symbol sein. Ein Symbol, ein Wort ist aber nicht, was es repräsentiert. Im Zen-Buddhismus wird in diesem Zusammenhang der Vergleich herangezogen, wenn du mit deinem Finger auf den Mond zeigst, verwechsle nicht deinen Finger mit dem Mond. Man läuft Gefahr, die Symbole zu einer Religion zu machen. Gott ist aber nicht dort.

Menschen werden durch unterschiedliche Traditionen in einen Glauben oder eine Weltanschauung hineingeführt und haben dann diesen Glauben. Häufig „hat“ man ihn, ähnlich wie einen Gegenstand, aber man „ist“ nicht, d. h. der Glaube, die Religion durchdringt nicht den Menschen, sondern ist nur ein Anhängsel, das man einfach übernommen hat, ein Teil der Kultur.

Der Begriff Religion muss bereinigt werden durch die Verneinung dessen, was Religion nicht ist, damit wir verstehen, was Religion ist. Religion ist die fundamentale Dimension des menschlichen Seins.

In Indien gab es zur Zeit Buddhas (6. Jahrh. vor Chr.) verschiedene Wandermönche, die unterschiedlichen Weltanschauungen angehörten und miteinander stritten, weil jeder glaubte, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. Buddha erzählte ihnen deshalb folgende Geschichte: „Es war einmal ein König, der rief zu seiner Zerstreuung etliche Bettler zusammen, die von Geburt an blind waren und setzte einen Preis aus für denjenigen, der ihm die beste Beschreibung eines Elefanten geben würde. Zufällig geriet der erste Bettler, der den Elefanten untersuchte, an dessen Bein, und er berichtete, dass der Elefant ein Baumstamm sei. Der zweite, der den Schwanz erfasste, erklärte, der Elefant sei wie ein Seil. Ein anderer, welcher ein Ohr ergriff, beteuerte, dass der Elefant einem Palmblatt gleiche usw. Die Bettler begannen untereinander zu streiten, und der König war überaus belustigt. “

Diese Parabel verliert nie an Aktualität. Ideologien sind einseitig, weil nur vom Verstand formuliert und an Ort und Zeit orientiert. Und da sie ihre eigene Identität in dialektischer, Gegensätzlichkeiten betonender Beziehung zu anderen Ideologien aufbauen, sind sie unfähig zur Selbst-Reflexion und damit unfähig, die eigene Örtlichkeit und Zeitlichkeit zu überwinden. Die Ideologie ist totalitär, weil sie meint, die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zu erfassen. Sie verlangt die Unterwerfung der privaten Überzeugung. (In der Kirche: „de internis non judicat ecclesia“). Die Vermeidung zukünftiger Weltkriege zwischen den Kulturen kann nur stattfinden durch Einigung, indem die Ideologien sich ihrer Relativität bewusst sind und an einem gemeinsamen Interesse arbeiten. Interessen einigen, weil sie zu Kompromissen führen.

Die Religionen müssten ihr ideologisches Gerüst kritisch reflektieren. Die religiösen Institutionen verstehen sich auch als Wachhunde der Kultur, aber sie sind zu Löwen geworden, je nach Religion mehr oder weniger stark. Sie werden oft zur Gefahr für den einzelnen Gläubigen und für andere Kulturen.

Anstatt sich an Ideologien zu klammern, ist es angebracht, zu den dahinterstehenden Theorien zu kommen. Und die Theorien müssten in einen globalen Zusammenhang gebracht werden, damit sie heutigen Anforderungen entsprechen. Ein Kriterium zur Überprüfung der Globalitätsfhhigkeit unserer Theorien ist die Überprüfung ihrer Entstehung: Die traditionelle Haltung jeder Philosophie ist, dass die Praxis aus der Theorie folgt, wobei der Vorrang des Denkens vorausgesetzt wird. Die Ideologien hingegen leiten die Theorie aus der Praxis ab, wobei die Praxis Vorrang hat. Für Ideologien ist maßgebend, was in der Welt geschieht Es gibt keine letzte Instanz, keine Transzendenz. Die praktische Philosophie unterscheidet zwischen dem Gegebenen und dem Denken.

Unsere Welt wäre weiterhin ein Feld der Konfrontationen, wenn man fortfährt sie den Händen von Ideologen zu überlassen, wie z. B. Multikulturalisten, die Europa der Welt gleich machen wollen oder Universalisten, die unter dem Deckmantel des Universalismus und des Fortschritts die Angleichung der Welt an den Westen bzw. der eigenen Kultur wollen.

Kultur wurde auf Feindbilder aufgebaut. Man fand zur eigenen Identität durch Gegnerschaft. Eigene Werte wurde verabsolutiert. Der Mensch von heute lebt immer noch, was Kultur betrifft, mehr im Gefühl von Feindbildern als in der Bindung an eine gemeinsame Weltkultur. Gemeinsame Weltkultur bedeutet weder, im Sinne der Multikulturalisten die Angleichung Europas an die Welt noch im Sinne der Universalisten, die Angleichung der Welt an den Westen.

Anstatt die vermeintlich universalen Aspekte einer Kultur zu propagieren, gilt es, im Interesse der Kulturen-Koexistenz nach dem zu suchen, was den Kulturen gemeinsam ist. Das heißt Verschiedenheit akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten, nach den Wesentlichen suchen. Dafür müssen wir eine andere Sprache finden als die der wissenschaftlichen Technokratie, die in der Dialektik verfangen ist.

Ängste und Selbstverständnis anderer Kulturen

Kulturen leben zu sehr in Abwehr; wenn nicht in Offenen Kampf dann in kalten Krieg miteinander.

Der hegemonische Anspruch der europäisch-amerikanischen Kultur, d. h. der Anspruch auf Beherrschung der Welt, mit dem Glauben an die Universalität der westlichen Kultur und ihrer Werte ohne Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit der Kulturen ist fatal. Man vergisst, dass durch den Verfall der Sowjetunion die amerikanische Hegemonie nicht mehr nötig ist für die Interessen der verschiedenen Völker. Dieser Hegemonie-Anspruch widerspricht westlichen Werten wie Selbstbestimmung und Demokratie und widerspricht asiatischen und muslimischen Kulturen, die moralische Überlegenheit für sich in Anspruch nehmen. Auch hier bei uns scheint der Werteverfall zu rechtfertigen, dass Einwanderer in eine Migration nach innen gehen, die der Bewahrung eigener Werte, eigener Gebräuche dient, auch wenn sie im Gegensatz zur Gastkultur stehen. Ihre Religiosität näht sich zum Teil aus einer moralischen Kritik an den destruktiven Tendenzen der westlichen Moderne, die im Widerspruch steht zur eigenen kulturellen Orientierung.

Auch in Ostasien versucht man sich vom Westen abzugrenzen. Präsident Wee von Singapur ist besorgt über die Beeinflussung der neuen Ideen und Technologien und die Aussetzung verwestlichter Werte wie Individualismus und egozentrische Lebensperspektiven. Er schlussfolgert: Es sei notwendig, die Kernwerte zu benennen, die den verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften in Singapur gemeinsam seien und „die Quintessenz dessen enthalten, was es bedeutet, Singapurer zu sein“. Folgende Werte wären gemeinsam: „Die Gesellschaft über das Ich stellen, die Familie als Grundbaustein der Gesellschaft hochhalten, wichtige Fragen einvernehmlich und nicht durch Streit lösen; auf rassische und religiöse Toleranz und Harmonie drängen.“ Er schloss ausdrücklich politische Werte wie Demokratie in seinem Katalog aus.

In der islamischen Welt rechtfertigte Zulficar Ali Bhutto den Ausbau eines vollen Nuklear-Potentials für Pakistan folgendermaßen: „Die christliche, die jüdische, die hinduistische Zivilisation besitzen dieses Potential. Nur die islamische Zivilisation besitzt es nicht, aber diese Situation sollte sich ändern“. (in Boston Globe, 14.8.93,S.2) Dies zeigt, dass der Zugang zur Globalität zuerst stattfindet durch den Zugang zum eigenen Kulturkern, der primär über Religion definiert wird.

Es ist klar, dass Zukunftsgeschichte zur Geschichte der großen Kulturen wird. Hier liegt das Betätigungsfeld, an dem wir viel zu knacken haben, Die großen Weltreligionen, die hinter den Weltkulturen als Identitätsregulatoren stehen, sind: Westliches Christentum, Orthodoxie, Hinduismus, Buddhismus, Islam, Konfuzianismus, Taoismus und Judentum. In ihnen sind die Indikatoren zur Spaltung oder zu gemeinsamen Werten. Eine Universalkultur kann nur auf dem Weg der Gemeinsamkeiten und der gemeinsamen Suche beruhen. Im friedlichen Austausch voneinander lernen, einander gegenseitig das Leben bereichern. Das große Problem ist, dass jeder dieser Kulturen sich allgemein gesprochen in verschiedenen Entwicklungsstadien der Identitätsfindung und Identitätsförderung befindet, sei es soziologisch, sei es individuell gesehen. Sie stehen zueinander in Reaktions-und Aktionsdynamik so das eine durch das andere konditioniert wird. Demokratie auf einer Seite ermöglicht auch auf der andere Seite Despotismus.

Das Christentum scheint, soziologisch gesehen, seinen Beitrag zur Entwicklung des Westens schon erledigt zu haben und ist nicht mehr die treibende Kraft. Seine Aufgabe hat sich in die innere Entwicklung des Individuums in der Privatheit verlagert und in der Globalitätsproblematik. Andere Kulturen, z. B. der Islam benutzen noch die Religion, um nationale Identitäten und Universalitätsansprüche gelten zu machen (Panarabismus). Die Unterschiedlichkeit der Funktionen, der Bewußtheitsgrad und die geschichtliche Entwicklung der Religionen müssen thematisiert werden, damit eine wahre Begegnung und Toleranz entstehen kann und nicht im Namen von religiöser Toleranz, Ideologien gefördert werden. Oft tut man so, als ob Religion gleich

Religion wäre und in unserer europäischen Selbstherrlichkeit, als ob unsere Begriffs- und „Wirklichkeitswelt“ gleich die der Welt wäre. Wir können nicht davon ausgehen, dass unser Demokratieverständnis in anderen Kulturen vorhanden ist, sonst missverstehen wir andere Kulturen und laufen Gefahr, sogenannte Demokratien ohne Demokraten zu fördern.

Bezüglich des Islam behauptet Prof Mohamed Arkoun: „Noch kann die muslimische Welt nicht wirklich mit Kritik umgehen. In der arabischen Sprache fehlen Worte wie „Kritik“ oder „Vernunft“, wie wir sie verstehen; Wir dürfen also kritisches Denken nicht voraussetzen, wir müssen es überhaupt erst einführen. Seit 1945 gibt es keinerlei Liberalität mehr in der arabischen Welt“ .

Der Islam kann sich nicht weiterhin reduzieren lassen auf eine engstirnige moralische Ordnung, Geschlechtertrennung und Verschleierung von Frauen. Er muß zurückfinden zu dem, was der islamische Philosoph Averröes schon in 12. Jahrhundert bezüglich der Lehre der doppelten Wahrheit sagte: es gibt die Wahrheit des Dogmas und die Wahrheit der philosophischen Spekulation (Er fand keinen Nachfolger im Islam). Die Aufklärung des Westens und mit ihr die Trennung von Religion und Politik, die Säkularisation, brachte Europa weiter. Dieses Europa, das sich teilweise von der negativen Herrschaft Gottes befreite, beängstigt die islamische Welt, die paradoxerweise keine andere Alternative sieht für ihr Selbstverständnis und ihre Selbstbehauptung als Allahs Mantel. Während der Westen sich von Gott abwendet und damit in die Krisis kommt, klammert sich der Islam umso mehr an Gott. Anstatt ein anderes Gottesbild zu entwickeln, scheint der Westen sich völlig von einem Gottesbild zu distanzieren. Der Islam läuft im Allgemeinen in die gegenteilige Richtung und damit in Phasen, die er selbst schon überwunden hatte.

Die Mythen als Weg

In der Zeit des Turmbaus zu Babel lebte die Gesellschaft in einer Sinnkrise beim Übergang von der Agrar- zur Stadtkultur. Weil die Menschen durch den Verlust der Zugang zu Gotte keine Mitte mehr hatten, hatten sie das Bedürfnis, eine Mitte, die alle Menschen vereint, zu bauen. Die sinngebende Mitte war der Turm. Dies ist dem Bedürfnis ähnlich, eine Wertegemeinschaft des Westens zu schaffen. Aus diesem Mythos heraus können wir erkennen, dass es eine Mitte ohne Gott nicht geben kann bzw. zu einem Versagen führen muss wie beim Turmbau zu Babel, wo aus der angestrebten Einheit eine Verwirrung der Sprachen wurde, d. h. dass die Menschen sich nicht mehr verstehen konnten.

Es gibt Wege zur Gemeinsamkeit in den Mythen der Religionen, die einander ähnlicher sind und sich sogar überlappen, als das in den Erscheinungsformen der Religionen der Fall ist: In der Vergangenheit und noch heute werden Religionen als Instrument von Identifikation benutzt in der Abgrenzung und somit auf ihre soziologischen Erscheinungsformen reduziert. Die Religion wird auf historische Fakten oder auf die Ebene der Phänomene und die Funktionalität reduziert. Die Phänomenologie vergleicht nur Strukturen oder Lehren.

In Christentum und Islam wird jeder Versuch einer esoterischen Vertiefung der Lehre durch die Obrigkeit für absolut unzulässig erklärt. Sie will nicht akzeptieren, dass es über ihren Bereich hinaus ein Gebiet gibt, das sich ihrem Urteil entzieht. Hier tut der Dialog mit den Religionen der mystischen Erfahrung wie Buddhismus, Hinduismus und Taoismus und mit der eigenen Mystik not. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die modernistische Überbetonung der Subjektivität auch ein Irrtum ist, weil sie die Objektivität ausschaltet, aber ein noch größerer Irrtum ist die konservative Überbetonung der Objektivität und der Legalismus, der jeder wahrhaften Subjektivität erstickt.

Der höchste Zweck der Religion ist das Heil des Menschen und nicht, Gottes Hüter und Verteidiger zu werden. Die Verteidigung Gottes gehört zur Ideologie und diese zielt darauf ab, Macht über andere zu erlangen durch die Instrumentalisierung Gottes, sei es im individuellen, sei es im kulturellen Bereich (Kreuzzüge und noch heute der Heilige Krieg).

Überwindung vom Dialektik/Dualismus; Brücken bauen durch eine neue Sprache, die Sprache der Mythen, die Sprache des Herzens

Meistens wurde der Dialog zwischen den Religionen dialektisch geführt, das heisst in Konfrontation zwischen verschiedenen Diskursen (Logoi) wohl wissend, dass der dialektische Diskurs zur Beherrschung der einen Kultur über die andere fühlt. Der Dialog muss mit der Hilfe der Mythen geführt werden, wenn wir nicht mit der Konfrontation der Kulturen fortfahren wollen. Man braucht aber Entmythologisierende Mythen. Es geht um die Entgöttlichung des Seins, des Ganzen und die Deontologisierung von Gott ohne dass das eine das andere vereinnahmt. Die Entmythologisierung des Mythos, d. h. der Versuch, die Mythen verstandesmäßig zu erklären, ist bis zu einen bestimmten Grad reduziert werden, dann wird Entmythologisierung zur Intoleranz, da eine Idee nicht eine gegensätzliche dulden kann. Der Mythos bewegt sich in der Freiheit des Seins, während das Denken sich in der Freiheit des Selektierens bewegt.

Der Mythos (Weltdeutung und Welterklärung) ist das, woran man glaubt ohne zu glauben, dass man daran glaubt, er ist das, was wir stillschweigend voraussetzen, was wir nicht in Frage stellen: der Mythos dient als letzter zeitloser Bezugspunkt, als Prüfstein der Wahrheit, er handelt von der Beziehung zwischen Gott – Welt und Mensch als Ganzes. Man kann den Mythos in verschiedenen Stufen leben, d. h. als Raum, als Geschichte und als Welt des Geistes.

Im Mythos des Kosmos
herrscht die Wahrnehmung des Raumes. Wirklichkeit ist räumlich und die 3 Welten (Gott, Welt, Mensch) werden in räumlichen Begriffen verstanden: Oben die Welt der Götter, dazwischen das menschliche und darunter die Unterwelt.

Im Mythos der Geschichte
herrscht die Zeit. Die 3 Welten sind Bereiche von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es geht um die Wahrnehmung der Subjekt-Objekt-Relation. In diesem Mythos sind wir besonders verfangen. Problem der Ontologie

Der Vereinigende Mythos bzw. der Mythos des Geistes: setzt die Überwindung der Dichotomie, d. h. den Zweispalt von Subjekt und Objekt voraus sowie des Dualismus. Es ist der Mythos der Bewegung auf die Ganzheit hin und ist das Ideal der Synthese. Die 3 Welten sind nicht nur räumlich oder zeitlich, sie sind vielmehr die Welten des Geistes, des Lebens und der Materie.

Wir haben den Mythos des Kosmos im Allgemeinen überwunden und befinden uns im Mythos der Geschichte, wo es um die Subjekt-Objekt-Relation geht. Wir streben aber die Globalisierung an. Die Voraussetzung, um diese zu schaffen, ist, die Stufe des Vereinigenden Mythos zu erreichen. Das setzt weiter eine Rückkehr zu einem erneuerten mythischen Verständnis voraus und eine Schaffung neuer Mythen bzw. die Ur-Mythen jeder Kultur nicht auf die Entwicklung der eigenen Kultur zu beziehen, sondern als Menschheits-Mythen zu betrachten.

Die Welt braucht eine neue „historische Achse“, ein neues Bewusstsein, wie es im 6. Jahrhundert vor Christus in allen Hochkulturen geschah: Die neue Orientierung von Mythos zum Logos (Verstand) bzw. zur Philosophie und Wissenschaft. Die verschiedenen Kulturen kamen vom Wir zum Ich und zum persönlichen Gott. Fast zur gleichen Zeit traten entscheidende Ereignisse und Religionsstifter und Philosophen auf, die die zukünftige Geschichte wesentlich prägten. Es kam zu einem qualitativen Sprung in der Menschheitsentwicklung, zu einer gemeinsamen Bewusstseins Änderung.

Mit der Tempelzerstörung von Jerusalem wird Abstand genommen von einem völkischen Gott. Zarathustra verkündet die persönliche Erlösung (Sittlichkeit, Mensch nicht nur Zuschauer), Konfuzius und Laotse kommen zu einer persönlichen Auffassung von Gerechtigkeit und Moral (persönliches Gewissen). In Griechenland geht man über von der Kosmologie zur Anthropologie. Heraklit entdeckt den Logos. Die Mysterien garantieren die Erlösung des Individuums. Wie hier der Mensch anfängt, sich abzunabeln vom Numinosen und der Tyrannei der Gruppe, so müsste heute ein ähnlicher Prozess der Entbindung der Menschen von den einzelnen Kulturen zu einer universellen Kultur stattfinden. Wie die Menschen damals vom Wir zum Ich kamen, müsste jetzt aus dem Ich heraus ein Wir werden, in dem sich das Ich bewusst aufgibt.

„Der Mensch kann ohne Mythos nicht leben. Anderseits wird der Mensch erst zu einem vollen Menschen, wenn er auch sein logisches Potential und seine geistigen Fähigkeiten entwickelt hat. Ebenso wie das Wesen des „Primitivismus“ einer archaischen Kultur in seinen mythischen Merkmalen liegt, so ist der „barbarische Charakter“ der zeitgenössischen westlichen Kultur im Wesentlichen nicht auf die materielle Komponente einer bestimmten Zivilisation zurückzuführen, sondern auf die überragende Macht, die sie dem Logos (Verstand) zuschreibt.“ (Panikkar). Mythos und Logos können nur im Geist existieren. Der Geist aber lässt sich weder vom Mythos noch vom Logos manipulieren. Der Geist ist Freiheit. Der 011 des Geistes ist das Schweigen, der Frieden. Kultur ist ein Geflecht von Mythos und Logos. Man kann nur völlig tolerieren, was man annimmt durch Verstehen (Logos) oder durch den Mythos. Die Beziehung der Vernunft ist dialektisch und die des Mythos dialogisch, das bedeutet, der Mythos schließt eine Wahrnehmung ein, die alles umfasst. Obwohl der Ort der Religionen der des Mythos ist, das heißt des Dialogischen, Friedlichen, leben und verkennen die Religionen sich selbst, indem sie sich oft reduzieren lassen auf das Dialektische, Kriegerische.


Mystik der Ort der Begegnung

Einer der Folgen der Globalisierung ist eine Lebensform, die ins Transkulturelle weist. Das führt dazu, dem Transzendentalen in anderen Kulturen und in uns zu begegnen über die Transzendenz der eigenen Kultur. Dies verlangt sowohl auf national wie auf internationaler Ebene im Kulturellen aber auch den Übergang von nationalpolitischer Geschichtsschreibung wie Geschichtsdeutung zur Universalgeschichte als Gedächtnis der gesamten Menschheit. Es ist klar, dass nationale Geschichte auch als nationaler Mythos die eigene Erinnerung prägte Diese Erinnerung bewirkt Zukunftsvorstellung und Zukunftsgestaltung, die dadurch regional werden, statt universal. Universales Bewusstsein kann nicht aufgebaut werden mit dem Parameter der Nationalkultur, aber auch nicht aus einem leeren Raum und aus Allgemeinplätzen wie die Herstellung eines Wertekatalogs. Geschichte muss neu beschrieben werden aus einer Weltsicht heraus.

So wie die Nationalgeschichte als Pädagogik ein Hindernis darstellt zur Schaffung eines universalen Bewusstseins, so sind die Religionen zuerst ein Hindernis, bis sie zu sich selbst gefunden haben, bis sie zur Mystik zurückfinden, die mit dem Mythos Hand in Hand geht. Die wohlverstandene Religion ist der Weg zur Zukunft Europas und zur friedlichen Zukunft der Welt.

Mystik allein genügt aber nicht. Alle Religionen brauchen erstens eine Institution, da nur sie Tradition ermöglicht, sie brauchen zweitens ein geistiges Milieu, das ethisches Handeln ermöglicht und drittens ein mystisches Leben (Erfahrung Gottes), das uns den Horizont öffnet. Dieses mystische Element ermöglicht eine gemeinsame Zukunft und eine Weltkultur. Es geht darum Tradition zu erneuern, statt aufzugeben.

Ich bin der Meinung mit Raimon Panikkar, dass „die Begegnung zwischen den Religionen sich nicht auf neutralem Boden ereignen kann, in einem Niemandsland, was ein Rückfall in einen unbefriedigenden Individualismus und Subjektivismus darstellen würde“. Die Begegnung kann nur im Zentrum der religiösen Überlieferungen stattfinden, auf der Ebene des religiösen Mythos und nicht auf der Ebene der religiösen Ideologie, welche Menschen und Völker instrumentalisiert und oft als Institutionen Hindernisse zur Entwicklung des Menschen darstellen. Die Begegnung muss sich außerhalb von Moralvorstellungen realisieren, weil diese Zeit und Raum gebunden sind im Gegensatz zu Religion. Es muss ein neuer Horizont den Erfahrungsaustausch aller Kulturen ermöglichen, wo Religion nicht nur die Bedeutung von re-ligare (wiederverbinden), sondern auch von entbinden hat, nämlich entbinden von Gottesbildern.

Eine neue Dimension von Kosmos-Mensch-Gott erschließt sich dann, wo Religion eine neue Daseinsform ermöglicht, in dem das Sakrale und das Profane keinen Gegensatz mehr darstellen. Im Christentum ist dieser Weg möglich durch die Trinität, die den Theismus, den Monismus und den Dualismus, Transzendenz – Immanenz übersteigt.

Auf der Basis dieser trinitarischen Wirklichkeit, die in allen Religionen (als Lebensrätsel und letzte Begründung) oft im Mythos versteckt, vorhanden ist, wird die Öffnung zur Gemeinschaft aller Menschen möglich, zur Welt, zur Natur und zum Geheimnis. Ein neues Bewusstsein, in dem die Religionen nicht mehr anstreben, die Religion der gesamten Menschheit zu werden. Ein Pluralismus ist notwendig, der im Glauben gründet, dass keine einzige Gruppe die Ganzheit der menschlichen Erfahrung umfasst. Er setzt zwar den eigenen Standort voraus, ist aber spiritueller Ort ohne die Diktatur der eigenen Tradition. Wenn Religionen und Kulturen sich als Ort von offener Identitätsfindung und der Auseinandersetzung mit der Welt verstehen, dann können sie nicht weiter Gott einsperren bzw. vereinnahmen und mit ihm den Menschen fesseln.

Die vergangene Erfahrung lehrt, dass Wahrheitsbesitzer zum Krieg als Lösung von Konflikten greifen. Nicht die Behauptung der Wahrheit, sondern die Suche nach der Wahrheit charakterisiert den religiösen Weg des reifen Menschen. Eine gemeinsame Suche ermöglicht die eigene Entwicklung und die der Welt. Die ganze Wahrheit schließt die Wahrheit der anderen ein. Karl Jaspers sagt: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Und Pseudo-Dionisius Areopagita meinte: Schon der Anspruch, Gott in irgendeiner Weise zu „erkennen“ ist an sich Götzendienst.

Da Gott und das Gute jenseits des Seins liegen, ist Schweigen angebracht. „Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im
Bereich des Denkens von Gott zu schweigen. Denn der ontologische Charakter
der Metaphysik ist für das Denken fragwürdig geworden, nicht aufgrund irgendeines Atheismus.“ (Heidegger, Identität u. Differenz, S. 45).

Im Christentum vollzog sich die Enthellenisierung Gottes, die Gott mit dem Sein gleichstellte. „Der christliche Gott ist nicht sowohl transzendent als auch immanent. Er ist eine andere Wirklichkeit, die im Sein gleichwohl anwesend ist und aufgrund dieser Anwesenheit macht er das Sein seiend“(Cfr. Devart, The Future of Belief S. 139)

Jeder Glaube jeder Kultur stellt eine Chance dar zur Entwicklung und Selbstfindung; sie stellen aber gleichzeitig eine große Gefahr dar, indem sie uns zeigen wollen, was Wahrheit, was Gott ist. Was bewusste Menschen zu tun haben, ist nicht von Gefängnis zu Gefängnis zu rennen, in der Illusion, die Wahrheit irgendwo in einer Kultur oder Religion zu finden, sondern die Mauern, die Handschellen der eigenen Kultur zu erkennen und damit zu begreifen, dass, was wir suchen, jenseits jeder Kultur, in uns selbst liegt. Nur dann kann man ergriffen werden und staunen. Schon Jesus hat festgestellt, dass Gott, die Wahrheit nicht im Tempel oder nur im Judentum zu finden ist, sondern inmitten des Menschen, der in der Gemeinschaft lebt, die alle einschließt.

Damit Europa nicht zugrunde geht und seine Aufgabe für die Welt erfüllt, muss es zur Mystik finden. In diesem Gott, der alle Namen hat, gibt es immer eine Zeit und einen Raum, wo alles möglich ist. Da gibt es Platz für Mythos und Wissenschaft, für Aktivität und Passivität fern von anhaftenden Vorstellungen, wo wir uns nicht verschließen brauchen wie die Schnecke, die sich bei jeder Herausforderung in ihr Schneckenhaus zurückzieht und somit den Sinn für andere Wirklichkeiten verliert. Schön ist es, wenn ich mitten in unserem Leben, das Gott durch Aktivismus zu verwirklichen sucht, noch die Möglichkeit einräume, ans Meer, auf den Berg, in die Wüste zu gehen, um die Stille zu hören und mich dabei dem Spiel hingebe, einen neuen Namen für Gott zu finden.

Mystische Erfahrung ist Glück und sie macht heimatlos, wobei man das Zuhause überall findet. Da hat Gott zwar viele Namen, mit denen man aber spielen und damit wachsen kann, aber an denen man nicht hängen bleibt. Jede Kultur, jeder Mensch schafft sich ein Gottesbild je nach seiner Entwicklungsphase, da die Gottesvorstellung des Menschen und kulturelle Lebensformen sich bedingen. Heute gibt es das Bedürfnis, ein neues Gottesbild zu schaffen, das den Anforderungen der Globalisierung entspricht. Diese muss aus der Ortopraxia entstehen, die aus der mystischen Erfahrung kommt über den Weg der Dialektik.

Antonio da Cunha Duarte Justo,
Hofgeismar, den 7. 5. 2000

PS: Die Katholizität, d. h. das Umfassend sein des christlichen Glaubens liegt gerade darin, dass der Glaube Gestalt annimmt in verschiedenen kulturellen Ausprägungen, Die abendländische Form des Christentums ist nur eine der möglichen Ausdrucksweisen des christlichen Glaubens.

Der Mythos des ersten europäischen Helden Odysseus, der unter anderen Mythen die Identität Europas formte, könnte man heute noch leben (als Programm). Odysseus lässt sich an einen Schiffsmast fesseln, um die verführerischen Göttinnen, die Sirenen hören zu können, und ihnen nicht zu folgen bzw. nicht von ihnen getötet zu werden. Er will bewusst leben. Dieser Mythos sagt aus, dass die Leidenschaft durch den Verstand gemäßigt wird. Odysseus schaltet das Gefühl nicht aus, aber durch die Herrschaft des Verstandes über das Gefühl unterliegt er ihm nicht.

Fest steht, dass der Gott der Religionen wie er von ihnen dargestellt wird, nicht genügt: das Absolute der Philosophie genügt auch nicht, das unendlichen Grenzen der Wissenschaft auch nicht.
Raimundo Panikkar in „Gottes Schweigen“ meint: „Die Rettung liegt aber nicht im Gott, die Rettung liegt in der Weigerung, irgendeine Philosophie zu einer Ideologie zu machen, die gewissermaßen Gott zum Mittelpunkt hat“. „Gott ist der Urgrund jenseits des Seins und deshalb jenseits jeder auch nur theoretischen Möglichkeit des Zugriffs.“

Der Gott der Christen steht aber jenseits und gleichzeitig im Sein.


© Antonio da Cunha Duarte Justo,

In Hofgeismar, den 7. 5. 2000